Flucht nach vorne an der Uni Wien – Fragen zu einem gutachterlichen Schnellschuss

Auf Druck der vor einer Woche neu gegründeten „Initiative Transparente Wissenschaft“ und einiger Printmedien hat die Universität Wien nunmehr selbst die Dissertation von Johannes Hahn im Volltext sowie auch das umstrittene Entlastungsgutachten des Züricher Philosophen Peter Schulthess online gestellt. Dies darf einerseits als erster Etappensieg der „Initiative Transparente Wissenschaft“ gewertet werden, andererseits sollte nun aber auch ein offener Dialog über die auf den Tisch gelegten Fakten stattfinden.
Ich habe der Universität Wien am 12. Juni 2007 dieses und dieses Dokument übermittelt. Den Plagiatsvorwurf erhob ich erstmals nach dem Fund der halben von Mitscherlich übernommenen Seite, die weder mit Anführungszeichen gekennzeichnet noch mit einer Fußnote belegt ist. Der Gutachter wertet diese Passage auf Seite 4 seiner Stellungnahme so:

„(…) so dass dann zusammen mit der Tatsache, dass sehr oft auch mit Anführungszeichen zitiert wird, aus dieser Unabgegrenztheit von eigenem und fremden Text der Eindruck eines Plagiates entstehen kann (z.B. S. 201f, 203f). Dazu ist entschieden zu bemerken, dass die Nicht-Kennzeichnung des Zitats nicht lege artis ist (…).“ (Aus dem Gutachten von Peter Schulthess, S. 4)

In einer sehr wohlwollenden Interpretation, nämlich der von Schulthess, entsteht an den inkriminierten Stellen nur der „Eindruck eines Plagiates“, aber es ist ‚in Wirklichkeit‘ keines. In einer etwas strengeren Auslegung (wir sprechen hier, zur Erinnerung, von der Doktorarbeit eines zum Zeitpunkt der Diskussion im Amt befindlichen Wissenschaftsministers) könnte es sich aber auch um Plagiate handeln, wobei der Eindruck entstehen soll, dass sie keine sind, da ja an anderer Stelle wieder korrekt oder auch unzureichend zitiert wird. In der Plagiatsforschung heißt dieses Spiel die „Bauernopfer-Referenz„. Dies wird zu klären sein, und das wird wohl der Knackpunkt der Debatte werden: Findet man weitere solche Passagen, und wie werden diese im Kontext der gesamten Arbeit zu interpretieren sein?
Weitere offene Fragen sind:
– Wie war es möglich, dass ich die neuen Funde am 12. Juni 2007 der Universität Wien übermittelt habe und das Gutachten mit 21. Juni 2007 datiert ist? Herr Schulthess hatte also maximal neun Tage für das Gutachten Zeit, ein erstaunlich kurzer Zeitraum.
– Hat Herr Schulthess das Gutachten ehrenamtlich oder gegen Honorar verfasst? Wenn Letzteres: Wie hoch war das Honorar?
– Hätte die Universität Wien nach dem Hinweis auf die „Unabgegrenztheit von eigenem und fremden Text“ und den „Eindruck eines Plagiates“ nicht eine Komplettprüfung der Arbeit veranlassen müssen (in einem ähnlichen Fall, Diplomarbeit von Herrn S., wurde nach meiner Anzeige der akademische Grad recht rigoros aberkannt, ich wertete meine Funde damals als weniger umfassend als bei Hahn)? Oder zumindest ein Zweitgutachten einholen?
– Ist es überhaupt üblich und sinnvoll, dass sich ein Gutachter nur mit inkriminierten Passagen beschäftigt, aber nicht die Arbeit insgesamt beurteilt?
Überdies müsste die Universität Wien die damals gültige Promotionsordnung sowie die Zitierregeln, die für Hahn gegolten haben, offenlegen. Und da sind wir wieder beim Anliegen: Wir brauchen ein Wikileaks für die Wissenschaft, sollte die Uni Wien nunmehr nicht auch weiter für Transparenz sorgen.

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