Der Fall Michel Friedman oder: Warum Dissertationsautopsie die interessanteste neue Wissenschaft ist

Erstmals gibt es einen prominenten Plagiatsfall in Deutschland, bei dem sich das Interesse der Plagiatssucher (Erbloggtes, Heidingsfelder, Weber) genau umgekehrt proportional zum Interesse der Journalisten verhält. Und das ist beim derzeitigen Stand der Dinge auch gut so. Erbloggtes schrieb mir gestern: „Das ist irgendwie ein erfrischender Plagiatsfall. Vielleicht wegen der neuen Frage, wer von wem abgeschrieben hat. Ich würde mir eine Entscheidung in dieser Sache so lange wie möglich offen lassen.“

Und genau so ist es. Man kann nämlich die These aufstellen, dass Friedman Grün ausgeschmückt, um eigenes Wissen bereichert hat. Man kann aber genau so gut die These vertreten, dass Grün Friedman gekürzt, um Abschweifungen reduziert hat. Beide Interpretationen sind mit den Textkonkordanzen über weite Strecken vereinbar. Derzeit haben wir nur die schriftlich vorliegende Aussage von Grün, dass er Friedmans Texte verwendet hat, allerdings ist diese, wie gestern kommentiert, in der vorliegenden Form unglaubwürdig. Da Grün seine Texte zwischen 2008 und 2010 publiziert hat und Friedman seine Dissertation 2010, müsste Grün damit auch entweder von philosophischen Seminararbeiten Friedmans oder aber von Erst- bzw. Rohfassungen von Friedmans Dissertation abgeschrieben haben. – Man mag sich hier fragen: Warum lassen uns die Akteure im Dunkeln und legen die Karten nicht einfach auf den Tisch? Warum hat Michel Friedman auf mehrere Anfragen Heidingsfelders nicht reagiert? Vielleicht finden es die beiden ja auch lustig, dass wir herumrätseln. Fein, dann hätten ja alle ihren Spaß.

So blieben uns nur folgende Wege der Erhellung: Wir besitzen mehrere Texte von Klaus-Jürgen Grün und Michel Friedman. Eventuell könnten uns stilometrische Verfahren in der Frage weiterhelfen, von wem die Versatzstücke ursprünglich stammen. Dafür werden im Moment auch softwarebasierte Lösungen entwickelt, zumindest als ein Aspekt der Anwendung. Ich würde mich freuen, wenn uns die Weimarer Gruppe unterstützen würde. Ein anderer softwarebasierter Weg wäre der Versuch, über gemeinsame Referenzen die Frage der Priorität zu klären. Vielleicht könnte uns hier die Software CitePlag nützlich sein. Auch hier: Dialog mit Informatikern erwünscht.

Bleibt noch drittens die Old-School-Variante: Textarchäologie als hermeneutisches Verfahren. Erbloggtes kommentierte gestern hier:

„Friedman und Grün schreiben gleichermaßen: ‚Nichts weniger als das gesamte Universum ist aus der Sicht des frommen Christen oder Moslems ein solcher Effekt an sich.‘ Wie verhält es sich mit der Sicht des frommen Juden, müsste Friedman sich gefragt haben?“

Eigentlich schon. Oder auch wieder nicht. Denn vielleicht wollte sich Friedman hier bewusst zurücknehmen, seine eigene Religion aus den Überlegungen heraushalten. Das Judentum kommt in seiner Dissertation an nur einer Stelle vor.

Und so stehen die werten Plagiatsgutachter in der Tat erstmals vor einem richtigen Rätsel: Klare Plagiate ohne klar benennbare Plagiatoren. Das ist neu und aufregend.

***

Im Übrigen lese ich derzeit „Entmoralisierung des Rechts“ – inhaltlich, nicht auf Plagiate. Scheint mir ordentliche Wissenschaft zu sein mit neuen Argumenten, die zwar vielleicht ihrerseits von falschen Voraussetzungen ausgehen, aber durchaus ein hohes intellektuelles Niveau aufweisen. Die entdeckten Konkordanzen, auch die mitunter fragliche Qualität dieser und vor allem die vielen Zitier- und Referenzfehler in Friedmans Dissertation passen da überhaupt nicht ins Bild.

3 Kommentare zu “Der Fall Michel Friedman oder: Warum Dissertationsautopsie die interessanteste neue Wissenschaft ist

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  1. Zeta

    Guten Abend,

    um ein Promotionsstudium antreten zu können ist ein abgeschlossenes Masterstudium erforderlich. Dies wiedrum setzt ein Bachelorstudium voraus. Ich habe nichts zu den Bachelor- und Masterarbeiten von Herrn Friedman gefunden. Weiterhin ist nicht bekannt, von wann bis wann Herr Friedman immatrikuliert gewesen ist.

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